Nichtwähler auf dem Vormarsch – DW – 25.05.2022
  1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Nichtwähler auf dem Vormarsch

25. Mai 2022

Sind die Deutschen wahlmüde? Die sinkende Wahlbeteiligung wie zuletzt bei der wichtigen Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen besorgt nicht nur Politiker. Eine Spurensuche.

https://p.dw.com/p/4BmUS
Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen Wahlurne
Bild: Marius Becker/dpa/picture alliance

Der Schock war groß bei der sogenannten "kleinen Bundestagswahl" am 15.Mai. Die Wahlen in Nordrhein-Westfalen, dem bevölkerungsreichsten deutschen Bundesland, galten schon immer als Trendsetter für die ganze Republik. Doch diesen Trend wünschte sich niemand: Nur 55,5 Prozent der Wahlberechtigten gingen wählen. So wenige wie noch nie wie seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Im Wahlkreis Duisburg III waren es nur 38,1 Prozent; Negativrekord in NRW.

Von der Politik vergessen?

Rentnerin Helga Nickelsen geht schon lange nicht mehr wählen. "Die Politiker sind doch verlogen. Die haben uns Rentner längst vergessen", sagt sie der DW. "Die versprechen uns erst 'was, was sie dann doch nicht halten", sagt die 78-Jährige bei einer Tasse Kaffee sitzend auf einer Einkaufsstraße in Duisburg-Meiderich.

Duisburg | Helga Nickelsen | Nichtwähler
Zornig über die Politik, Rentnerin Helga NickelsenBild: Volker Witting/DW

Andere hatten am Wahltag Besseres zu tun: "Wir waren mit den Kindern im Freizeitpark." "Ich musste arbeiten". Oder: "Wusste nicht, dass gewählt wird." Namentlich genannt werden wollen die meisten Nichtwähler aus Duisburg nicht.

In Deutschland gibt es keine Wahlpflicht. Und: Landtagswahlen sind nicht so wichtig wie Bundestagswahlen. Dennoch ist SPD-Urgestein und Profipolitiker Frank Börner "frustriert", wie er sagt. Börner hat mit fast 42 Prozent den Problemwahlkreis Duisburg III gewonnen; erneut. Grund zur Freude empfindet er jedoch nicht: "Es bleibt dieser Wermutstropfen, die Wahlbeteiligung", sagt er der DW.

Historische Schlappe für Sozialdemokraten

Börner ist seit 2012 direkt gewähltes Mitglied des Landtages in Nordrhein-Westfalen. Seine SPD hat kräftig Stimmen eingebüßt. Auch, weil viele ehemalige SPD-Wähler dieses Mal zuhause geblieben sind; Neu-Nicht-Wähler. Und überhaupt: Die SPD hat ein historisch schlechtes Ergebnis eingefahren (26,7 Prozent).

Gewinner sind CDU (35,7 Prozent) und die Grünen (18,2 Prozent), die wohl gemeinsam die nächste Regierung in NRW stellen werden. Das wäre für Börner alles noch zu verkraften, wäre da nicht die schlechte Wahlbeteiligung in seinem Wahlkreis.

Duisburg | Frank Börner | SPD-Landtagsabgeordneter NRW
"Das ist keine Demokratie mehr", sagt SPD-Politiker Frank BörnerBild: Volker Witting/DW

Zum Beispiel im Problemstadtteil Duisburg-Marxloh, mitten im Ruhrpott, der ehemaligen Stahl- und Kohleregion, die lange Zeit als Hochburg der Sozialdemokraten galt. Marxloh gehört auch zum Wahlkreis Duisburg III. Wer hier lebt, muss nicht unbedingt deutsch sprechen. In den meisten Läden versteht man auch türkisch oder arabisch.

Marxloh ist ein Beispiel für misslungene Integration, den ausgebliebenen Strukturwandel im Ruhrgebiet, hohe Arbeitslosigkeit und Kinderarmut. Hier leben viele Hartz-IV-Bezieher und schlecht ausgebildete Menschen. Von 4950 Wahlberechtigten haben nur 943 gewählt; 19,04 Prozent!

"Das ist im Prinzip schon keine Demokratie mehr", analysiert SPD-Mann Börner resigniert. Auch vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine, wo die Menschen für die Demokratie sterben würden, sei das kaum verständlich. "Oder denken Sie an afrikanische Länder, wo die Menschen einen Tag lang unterwegs sind, um wählen zu gehen", fügt Börner an.

Frust wegen gestiegener Preise

Jonas Zici (24) hätte es wirklich nicht weit gehabt. "Das Wahllokal ist in einer Schule, gleich gegenüber unserer Wohnung", sagt der junge Mann mit Fachabitur und türkischstämmigen Eltern, der in Duisburg geboren wurde. Er kenne sich mit den politischen Parteien in der Türkei besser aus als in der deutschen Parteienlandschaft: "Ich bin nur enttäuscht von der deutschen Politik. Alles wird teurer. Meine Frau und ich kommen bei den enorm gestiegen Preisen kaum noch über die Runden", sagt der Nichtwähler.

Duisburg | Stadtteil Duisburg-Marxloh
Problemviertel Duisburg-Marxloh - hier boomt die Armut und das Brautmodengeschäft: 40 Läden auf wenigen hundert MeternBild: Volker Witting/DW

Nur rund 55 Prozent Wahlbeteiligung in NRW, das sei schon "dramatisch", sagt Wahlforscher und Senior Advisor Professor Robert Vehrkamp von der Bertelsmann Stiftung, aber eben auch "wenig überraschend".

Mehr Nichtwähler wegen schwacher AfD

Eine Erklärung: Die rechtspopulistische AfD hat bei den letzten Wahlen - wie auch in NRW - an Zuspruch verloren. Die ausländerfeindlichen, zugespitzten Parolen, die sich gegen Migranten richteten, zögen heute nicht mehr so, erklärt Vehrkamp. "Die (AfD) sind immer wieder genau in die Stadtteile reingegangen, wo die Wahlbeteiligung besonders niedrig war", sagt Vehrkamp.

Er vermutet, dass die AfD "bis zur Hälfte ihrer Wählerinnen und Wähler aus dem Nichtwähler-Milieu" geholt habe. "Und die gehen jetzt wieder zurück ins Nichtwähler-Lager, weil die ehemaligen AfD-Wähler zunehmend frustriert sind über die zerstrittene Partei."

Bis 2020 stieg die Wahlbeteiligung bei Landtagswahlen kontinuierlich an; doch seitdem fällt sie wieder. Seit Beginn der Pandemie, vor rund zweieinhalb Jahren, gab es acht Landtagswahlen. Sechs Mal sank die Wahlbeteiligung. Nur zwei Mal stieg sie. Das lag vor allem daran, dass in Mecklenburg-Vorpommern und Berlin am Tag der Bundestagswahl auch neue Landtage gewählt wurden.

Ein Abwärtstrend, der sich auch bei den kommenden Bundestagswahlen in rund dreieinhalb Jahren fortsetzen könnte. Bei der Bundestagswahl im September 2021 hatten mehr als vierzehn Millionen dreihunderttausend Wahlberichtigte (23,4 Prozent) nicht abgestimmt. Trotz leicht gestiegener Wahlbeteiligung. Bei der Europawahl 2019 waren es sogar 38,6 Prozent.

Eine "Partei der Nichtwähler", die gäbe es aber nicht, erklärt Wahlforscher Vehrkamp. Eines sei aber sehr deutlich zu beobachten: "Das ist der Trend der sozial gespaltenen Wahlbeteiligung." Je höher Einkommen und Bildung seien, desto politisch interessierter seien die Menschen und gingen wählen. Es gebe Stimmbezirke bei Landtagswahlen, da wählten bis zu 80 Prozent der Menschen. In anderen Wahlkreisen sinke die Wahlbeteiligung bis auf 20-30 Prozent. "Die müssen zurückgeholt werden in die demokratischen Beteiligung."

Soziale Not und politische Teilhabe

Dieser Analyse schließt sich der Duisburger SPD-Politiker Börner an. Er hat drei Gruppen ausgemacht, die in seinem Wahlkreis nicht mehr wählen gehen. Das seien die "Abgehängten ohne Job oder in Hartz IV", außerdem die, "die schlecht gebildet sind; kaum Jobs finden" und die Gruppe der "Saturierten", die gut verdienten und am "Wahlsonntag lieber den Grill anmachen und sagen: Ich habe ein gutes Leben. Ich brauche den Staat nicht."

Politik nahe bei den Menschen

Nichtwähler, das sei ein "gesamtgesellschaftliches Problem", an dem nicht die Parteien einseitig schuld seien, sagt Bertelsmann-Forscher Vehrkamp. Er hat sich ausführlich damit befasst, wie man sie zu Wählern machen könnte. Die Politik müsse dahin, wo die Menschen leben, "die sich weitgehend aus dem politischen Beteiligungsprozess verabschiedet haben".

Robert Vehrkamp, Politikforscher bei der Bertelsmannstiftung
Wahlforscher Robert Vehrkamp fordert: Politiker rein in die ProblembezirkeBild: Fabian Sommer/dpa/picture alliance

Gerade da, wo Menschen lebten, die sich politisch abgehängt fühlten, könne das helfen, meint der Wissenschaftler: "Warum gehen wir nicht 14 Tage vor jedem Wahltermin mit mobilen Wahllokalen genau in die Stadtviertel, wo die Wahlbeteiligung so dramatisch niedrig ist?"

Auch eine Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre, wie das vier Bundesländer für ihre Landtagswahlen schon machten, sei ein Chance. Außerdem sollte man "Wahltermine bündeln", so Vehrkamp. Zum Beispiel Landtags- und Bundestagswahlen zusammenlegen. Erfahrungsgemäß steige dann die Wahlbeteiligung. Zur Briefwahl ermuntern und Wahlen digitalisieren, seien weitere Chancen.

"Demokratie braucht Demokraten"

Diese Ideen überzeugen auch SPD-Mann Frank Börner, wie er im DW-Gespräch versichert. Er will ebenfalls, dass aus Wahlverweigerern oder Nicht-Interessierten wieder Wähler werden, denn "Demokratie braucht Demokraten". Eines aber, sagt Börner, mache ihm besonders viele Sorgen: "Dass die Nichtwähler irgendwann irgendeinem Populisten hinterlaufen."

Volker Witting
Volker Witting Politischer Korrespondent für DW-TV und Online